England, Winter 1917

Der französische Psychologe Gaspard Renoir wird vom Earl of Whitehurst nach Yorkshire beordert, um dessen kriegsgeschädigten Neffen Valentine zu kurieren.

Im Park des Herrenhauses trifft der Arzt Mallord Grimby, der Renoir und seinem Patienten den Aufenthalt in einem verwaisten Schloss anbietet, in dem Mallord früher beschäftigt war. Der Schlossherr Carrick Escaray verschwand auf rätselhafte Weise. Genauso rätselhaft erscheinen das Schloss selbst, Mallord und seine Umwelt. Als Renoir beginnt, über Escaray Hall und seine früheren Bewohner Nachforschungen anzustellen, stößt er im Dorf auf heftige Ablehnung und Unverständnis.

Ein Geheimnis umweht die Escarays, das offenbar eines bleiben soll. Auch der Landarzt Elwyn Hazelgrove – einst Ziehvater des jungen Carrick – scheint mehr zu wissen, als er preisgibt.

Nach und nach entwirrt Renoir mit Hilfe seines jungen Patienten das Geflecht zwischen den beiden seit Generationen verfeindeten Familien Whitehurst und Escaray.

 

 

 

 

Leseprobe

Unter dem Türsturz stand eine Gestalt, die Schultern gegen den ungemütlichen abendlichen Wetterumschwung – es nieselte und würde wohl noch gewittern – hochgezogen. Renoir fragte sich, ob er zufällig hier gestrandet war, doch er machte eher den Eindruck, als warte er auf jemanden. Wie ein Herumtreiber sah er in seinem passgenauen Gehrock außerdem nicht aus.

Valentine hüpfte vom Pferd, schnappte sich Renoirs Schimmel und verschwand in den Stallungen, ehe der Doktor ihn zurückrufen konnte. Er ging auf den Neuankömmling zu, der seinerseits Kurs auf Renoir nahm. Unweit seines Vauxhall parkte ein typisches Doktormobil der Firma Union, das Renoir aus den Augenwinkeln registrierte und ihm den Beruf des Mannes verriet. Offenbar ein Kollege. Auf dem Beifahrersitz hockte jemand, dessen Gesichtszüge im Dunkeln lagen.

„Dr. Elwyn Hazelgrove“, rief der Doktor ihm entgegen. „Ich hörte, das Haus sei wieder bewohnt und hielt es für eine gute Idee, den neuen Mietern einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Ich hoffe, ich störe nicht?“

„Sie haben sich einen denkbar ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht“, empfing ihn Renoir mit einem vielsagenden Augenaufschlag gen Himmel, bevor er den Fremden misstrauisch musterte. Er war von durchschnittlicher Größe und wirkte mit einem leicht süffisanten Grinsen, das offenbar im Laufe seiner Karriere zu einer ausgetüftelt einschüchternden Taktik geraten war, recht unverschämt. Einen Barbiersalon hatte er lange nicht mehr von innen gesehen, er trug keinen Hut, wie um den Besitzerstolz der ungewöhnlich langen Mähne zu unterstreichen, die jetzt freilich nass an seinem Schädel pappte.

Obwohl Renoir ansonsten zurückhaltend in seinem Urteil zu sein pflegte, verleitete ihn das instinktive Unbehagen angesichts dieses Dandys zu einer Unterstellung, die er normalerweise für sich behalten hätte. „Hat Whitehurst Sie geschickt?“

Ein abwertendes Lachen ließ ihn wie einen Idioten dastehen. „Mitnichten. Ich bin – war – der Hausarzt und langjährige Freund der Familie Escaray. Als solcher betrachte ich es als meine oberste Pflicht, Sie auf Ihre lauteren Absichten zu testen. Um genau zu sein brachte mich ein gemeinsamer Bekannter auf diese Idee. Mallord Grimby, der Gärtner. Lag mir regelrecht in den Ohren damit. Nicht dass ich neue Nachbarn nicht auch willkommen heißen möchte. Sie sind aus Paris hergekommen?“

Vorgeplänkel, dachte Renoire. Muss leider sein. Nebenbei bejahte er, kürzte dann aber spontan die Begrüßungszeremonie ab. „Reden Sie nicht um den heißen Brei. Was wollen Sie wirklich hier?“

Perplex knickte Hazelgrove in der Hüfte ein, gewann seine Contenance rasch zurück und lächelte gönnerhaft.

„Ich sehe, wir verstehen uns. – Nun, unter Kollegen, Mr. Renoir – Fakt ist, es geht mir um den Jungen, der bei Ihnen ist. Valentine Whitehurst. Schon seit geraumer Zeit interessiert mich der Knabe, doch der Earl ließ keinen Akademiker an ihn heran, bewachte ihn wie ein Zerberus.“ Einladend wedelte er mit einem Zigarettenetui vor Renoirs Nase herum, dem daraufhin nichts anderes übrig blieb als dem Anstand Genüge zu tun, ihn zum Haus zu bitten und durch den Dienstboteneingang zu schleusen.

„Mir erzählte er, er hätte ihn von der hiesigen Medizinerprominenz teuer piesacken lassen.“

Elwyn Hazelgrove riss die hellbraunen, verschlagen kleinen Augen auf. „Sie sind gewiss kein Typ, der sich hinters Licht führen lässt, und doch ist es Whitehurst gelungen. Machen Sie sich nichts daraus, Sie sind nicht der Erste und werden auch nicht der Letzte sein. Geschichten erzählen, das ist seine einzige Stärke. Glauben Sie dem Alten nicht, er lügt sowie er das Maul auftut. Bevor Sie aufgekreuzt sind, hat niemand den Jungen zu Gesicht gekriegt, obwohl er einen Arzt verdammt noch mal bitter nötig gehabt hätte.“

 

Unterdessen waren sie im weitläufigen Wohnraum angekommen, ein in dezenten Erdfarben gehaltener Saal mit Eichenvertäfelung der Wände und einem alten Broadwoodflügel in der Mitte. Renoir hatte die Möbel entblättert, die er für sich und Valentine beanspruchte, so dass der Raum ein heimeliges Flair aussandte und den britischen Doktor alten Zeiten nachtrauern ließ, indem er sich ausgiebig in Sentimentalitäten suhlte. Den Gastgeber hervorkehrend, kredenzte ihm Renoir höflich, aber mit frostiger Miene ein Glas Portwein. Aufseufzend plumpste Hazelgrove in einen der Ledersessel, schlürfte genüsslich das dargereichte Getränk. „Eine Schande, dass man alles verkauft hat. Niemand hätte hier freiwillig wohnen wollen, nach allem, was passiert ist. Vielleicht ist es das Beste so. Trotzdem – Sie wissen, was ich meine.“

Die im Raum schwebende Verlegenheit wurde von Valentines Auftritt erstickt; Hazelgrove fuhr wie von Hornissen gestochen hoch und verschüttete den Wein auf dem mit aufwendigen Ornamenten verzierten rostroten persischen Bidjar.

„Valentine – Dr. Hazelgrove“, stellte Renoir mit monotoner Stimme vor; er zog die Schlussfolgerung, dass sich die beiden kannten, aus der schlagartigen Blässe seines Gegenübers. Der Junge machte einen Schritt rückwärts. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, versicherte Hazelgrove schnell, wobei er sich beeilte, das verheerende Glas auf den Tisch zu knallen, das doch schon vollständig ausgelaufen war.

„Ich wollte Sie nur einmal sehen. Sie sind Valentine Whitehurst?“

Langsam näherte er sich dem wie gelähmt dastehenden Knaben, strich ihm das verklebte Haar aus der Stirn und hielt sein Gesicht so, dass Valentine außerstande war, es wegzudrehen. Misstrauisch und mit einem Hauch Eifersucht schaute Renoir zu. Die Augen des Jungen suchten die seinen, woraufhin Renoir es nicht lassen konnte, ihm verschwörerisch zuzuzwinkern. Hazelgroves blasiertes Mienenspiel erstarb; er grapschte nach einer Stuhllehne und stützte sich schwer darauf, während Valentine in den Erker des Zimmers zurückwich und dort auf einer Bank Platz nahm, die Beine anzog und das Gesicht an den Knien vergrub. Hazelgrove ging etwas abseits, entließ ihn jedoch nicht aus seinem Blickfeld. „Haben Sie mit ihm gesprochen, Renoir?“

Vage zuckte Renoir die Achseln; es schien ihm Ewigkeiten her zu sein, seit er den verstockten Jungen aus der Reserve gelockt hatte. Letztendlich war es gar nicht geschehen. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Momentan erweckte sein Patient einen schlechteren Eindruck als die ganze Zeit zuvor mit ihm, Renoir, an den er sich schon einigermaßen gewöhnt hatte. „Jedenfalls ist er nach meinem Dafürhalten dazu fähig“, attestierte er vorsichtig.

„Ich habe das schon einmal erlebt“, krächzte Hazelgrove. „Sie reden fast nie.“

„Wer?“, hakte Renoir nach, aber der Doktor war mit seinen Gedanken woanders. Er sah sich um und überlegte, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Plötzlich lächelte er den Kollegen an, als sei ihm die Erleuchtung widerfahren. „Mit Ihrer Erlaubnis darf ich ein kleines Experiment durchführen, Renoir. Ich möchte versuchen, ob ich in ihm eine Reaktion hervorrufen kann.“

Voller Skepsis neigte Renoir den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war ihm klar, dass er unfair dem anderen gegenüber dachte, aber dessen Kommandoton stieß ihm sauer auf.

„Was bezwecken Sie damit, wenn Sie ihn erschrecken, denn das haben Sie zweifelsohne vor.“

„Es ist Mallords Idee gewesen“, erklärte Hazelgrove versöhnlich. „Ich glaube, Sie wissen, dass er durch und durch Gentleman ist und ihm nie etwas Böses wollte.“

„Sie berufen sich bereits zum zweiten Mal auf Mr. Grimby, aber ich sehe ihn nirgendwo. Sie könnten mir Gott weiß was erzählen. Vielleicht sind Sie ein Dieb, ein Schmarotzer, ein Spitzel sogar.“

Unerfreulich berührt scharrte Hazelgrove mit den Füßen und knetete die Aufschläge seines Rockes. Lange herrschte Grabesstille, bis er stocksteif zum Tisch stolzierte, ein paarmal darauf klopfte, um dann flammenden Blickes die ihn überragende Gestalt Renoirs einzufangen.

„Mallord Grimby wird ihn wahrscheinlich nie von Angesicht zu Angesicht sehen, weil ihm Kriegsinvaliden wie der Junge das Leben schwer genug gemacht haben. Sie sollten das als Psychiater eigentlich besser verstehen als jeder andere.“

„Konflikte zu meiden, ist nicht der richtige Weg“, argumentierte Renoir streng. „Wer sich der Herausforderung stellt, hat letztlich mehr davon.“ Hazelgrove kam in Fahrt, vermutlich hatte er viele von Mallords Schlag unter seinen Fittichen gehabt. Erfolglos, selbstverständlich. „Ihre klugen Sprüche helfen da auch nicht weiter.“

„Nein“, gestand Renoir. „Aber jemand muss ihm sagen, wo sein Problem liegt. Valentine ist kein Geisteskranker, er ist nur verstört von den Ereignissen, die so unerwartet über ihn hereinbrachen. Vielleicht überrascht es Sie, lieber Kollege, dass ich beiden, Valentine und Grimby, großes Verständnis und Mitgefühl entgegenbringe. Aber man sollte dem nicht zuviel Raum eingestehen. Viel wichtiger ist die Aussprache, jemand, dem sich solche Leute öffnen können. Ich denke, es wäre ein heilsamer Schock für Grimby, mit Valentine in Kontakt zu treten. Genau das ist es, was diese Menschen brauchen. Zuneigung und jemanden, mit dem sie über das, was sie erlebt haben, sprechen können ohne sofort nach zwei mühsam gestammelten Sätzen in der Klapsmühle zu landen.“

Nun war Hazelgrove nicht mehr imstande, seine Ungeduld zu verbergen.

„Ja, sicher, sicher. Darf ich mich jetzt um Whitehurst bemühen? Meine Methode mag Ihnen unorthodox vorkommen, aber auf diese Weise finde ich denkbarerweise etwas Entscheidendes heraus, das bestimmt auch in Ihrem Interesse ist. Der Teufel soll mich holen, wenn es mir nicht gelingt, mehr über ihn zu erfahren.“

Alors“, resignierte Renoir, behielt den schrulligen Kollegen jedoch scharf im Auge.

„Maurice“, sprach dieser den Jungen endlich mit feierlich tiefem Organ an, welcher ruckartig den Kopf hob, in seinem Blick etwas Gehetztes, das der englische Doktor jäh replizierte. Mehr als Renoir schien er zu ahnen, was in Valentine während des Besuches vorging. Um ihn und offenbar auch sich selbst nicht weiter aufzuregen, wandte er sich an Renoir. „Ich muss gehen. Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Nur auf den Likör hätte ich verzichten können. Zu alter Jahrgang, fürchte ich. Andererseits hätte ich es mir gleich denken können. Dieses Haus ist verhext, samt und sonders. Als man es als Lazarett aufgab, witterte jemand von der Touristikbranche seine Chance, es in ein Luxushotel umzurenovieren, aber es ist doch gescheiter, man macht diese Geisterruine dem Erdboden gleich. Zum Glück konnte der Earl dem Kerl die makabre Idee verleiden. Das war das einzig Gute, was er je bewerkstelligt hat. Aber auch nur, weil es dabei um seinen Vorteil ging.“

Immer noch war sein Blick starr auf Valentine gerichtet, er sprach mehr zu sich selbst als zu Renoir. Abermals schwankte er, atmete laut aus und ließ sich wieder in den Sessel fallen. Stirnrunzelnd blickte Renoir in Hazelgroves teigig-fahles Gesicht.

„Geht es Ihnen nicht gut? Möchten Sie die Nacht über bleiben? Wir haben Platz genug. Außerdem braut sich ein Unwetter zusammen, vielleicht wäre es ohnehin klüger, nicht zu fahren.“

„Nein!“, wehrte der Arzt schroffer als beabsichtigt ab und schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Ich habe – noch einen wichtigen Patienten. Sie wissen ja, Feierabend ist ein Fremdwort in unserem Metier. So ein Dorf hat nur einen einzigen Arzt, und den sehen Sie unseligerweise vor sich.“

Zu verstört, um selbständig in seinen Mantel zu schlüpfen, ließ er sich von Renoir gerne helfen. Schweißtropfen glitzerten auf seiner Stirn, doch Renoir fragte nichts. „Merci“, bedankte sich Hazelgrove, ehe er fluchtartig das Gebäude verließ.

 

 

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