Das Buch:

Ende der siebziger Jahre


Die namenlose Ich-Erzählerin lebt mit dem wesentlich älteren Milan zusammen, der in München als Regisseur und Autor arbeitet. Psychisch labil und von frühester Kindheit an traumatisiert, sucht sie bei ihm die Sicherheit, die sie nie gekannt hat.

Von außen wird die ungewöhnliche Beziehung aufgrund der Gegensätze und des großen Altersunterschiedes kritisch betrachtet, und bald bestimmen alte Schrecken wie Abhängigkeit, Eifersucht, Selbstzweifel und Verlustangst das Leben der jungen Frau. In Gesprächen mit Milan erkennt sie schließlich den Grund dafür und geht einen Schritt, zu dem sie sich nicht fähig geglaubt hat.

 

 

 

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Leseprobe:

 

 

Weder er noch ich haben Geburtstag, es ist auch nicht Weihnachten, doch Milan tut, als sei dieser Tag etwas ganz besonderes, er hat sich frei genommen und will den ganzen Tag mit mir zusammen sein.

Heute habe ich Zeit nur für dich, sagt er, es ist nett, dass er es sagt, ich sehe ihn zärtlich an und sage liebenswürdig: Danke.

 

Wir fahren raus zum Olympiagelände, ich bin noch nie auf dem Turm gewesen. Ich habe nicht an den Lift gedacht, der nach oben und zum Restaurant führt, ich klammere mich an Milan, die Leute lachen, ein alter Mann nimmt mich in Schutz, er sagt tadelnd: Bei dieser Geschwindigkeit ist es schon zu Ohnmachtsanfällen gekommen.

Auf die zweite, höhere Plattform des Turmes traue ich mich nicht, ich finde es tückisch, dass das Rundgitter viel niedriger ist als bei der großen, aber es ist nichts falsch daran, kein Fehler des Architekten, denn wer von der kleinen Plattform springt, bricht sich höchstens ein Bein, schließlich landet man auf der nicht allzu fernen Hauptplattform.

Weil ich nicht gefrühstückt habe, verspüre ich Hunger, ich möchte eine Kleinigkeit essen im Restaurant. Gehorsam nimmt der Ober die italienische Gemüsesuppe auf, aber er ist ein wenig enttäuscht über meinen mäßigen Appetit, empfiehlt uns Wildschweinbraten mit Preiselbeeren für zwei Personen, Milan winkt ab, er mag nichts essen.

Der Ober reicht mir die Suppe über den Tisch, ich strecke die Arme nach der Schüssel aus, um ihm zu helfen, er ruft: Achtung! Heiß! und ich lasse vor Schreck das Geschirr fahren. Ich presse beide Hände an die Ohren, als die kostbar aussehende blau-weiße Terrine mitten auf dem Tisch zerschellt, große Scherbensplitter ziehen die Gläser in Mitleidenschaft, der rote Wein fließt auf die Tischdecke.

Tut mir leid – ich wollte nicht – wirklich nicht – Entschuldigung, das ist mir schrecklich peinlich –

Hektische Flecken am Hals und im Gesicht, sammelt der Ober die Scherben ein, er ist wütend, er sagt: Wenn das der Chef erfährt, ich bin doch noch in der Lehre, zum Donnerwetter –

Alles in Ordnung, sagt Milan, es bleibt offen, ob er damit mich oder den um seine Beherrschung kämpfenden Jungen beruhigen will, darüber kann man doch reden. Er steckt dem Ober ein paar Scheine zu, ich sehe nicht, wie viel, doch der Ober macht einen Bückling und überschlägt sich fast vor Dankbarkeit, er bringt mir sogar einen neuen Teller Minestrone. Am Nachbartisch beginnt ein Kind zu quengeln, die Quengelei geht in Geschrei über, als es nicht Pommes Frites mit Ketchup gibt, die Eltern sind verzweifelt, es sind Eltern, die Angst haben, etwas falsch zu machen, sie werfen sich gegenseitig hilfesuchende Blicke zu. Das Geplärr geht auf meine Nerven, die Ratlosigkeit der Erwachsenen ärgert mich. Milan beobachtet das zweite Kind, ein älterer Junge, vielleicht fünf Jahre alt, er stochert lustlos und stumm in seinem Essen, fern jeglicher Aufmerksamkeit, ergeben lässt er das Krakeelen des Nesthäkchens über sich ergehen.

 

Ich: Was für ein Gefühl ist es, Geschwister zu haben, nie alleine zu sein, warst du je glücklich darüber, Geschwister zu haben?

 

Milan (weiterhin den Jungen beobachtend): Ich weiß es nicht, man macht sich keine Gedanken, wenn man sie hat. Hättest du denn gern einen Bruder oder eine Schwester gehabt?

 

Ich: Einen Bruder habe ich mir oft gewünscht, keine Schwester, sie wäre mir zu ähnlich, aber doch - einen Bruder. Einmal habe ich eine Schwester gehabt. Wir haben über dieselben Dinge gelacht, und eigentlich war es sehr schön, sie hat mich immer verstanden.

 

Milan: Wo ist deine Schwester jetzt?

 

Ich: Sie hat nie existiert, oder vielleicht ist sie erwachsen geworden, vielleicht ist sie auch gestorben.

 

Milan: Warum hast du sie einfach vergessen?

 

Ich: Ich habe dich gefunden, und ab da brauchte ich sie nicht mehr.

 

Milan: Bin ich der Bruder, den du immer haben wolltest?

 

Ich: Du müsstest es eigentlich besser wissen. Du bist alles für mich, denn du bist alles, was ich noch habe.

 

Milan:  Wie gut du dich belügen kannst. Ich möchte wetten, du glaubst selbst, was du da sagst.

 

Ich: Warum wirfst du mir immer Unwahrheit vor, du weißt doch gar nichts von mir, und niemand weiß irgendetwas, sonst wäre das Leben lebenswert und die Menschen würden einander verstehen.

 

Milan: Was weißt du denn, was macht das Leben lebenswert?

 

Ich: Das ist es, was ich noch herausfinden muss, aber natürlich gibt es etwas, es kann doch nicht alles umsonst sein. Es ist nicht die Arbeit, auch nicht Bücher oder materielle Dinge an sich, und schon gar nicht das eine, woran die Männer ständig denken, ein bisschen flirten, ein bisschen schmusen und ab ins Bett.

 

Milan: Jetzt wirst du frivol.

 

Ich: Es darf einfach nicht alles sein, was ich zu erwarten habe. Man muss danach suchen, aber die Menschen sind zu bequem geworden, wir begnügen uns mit dem, was wir haben, deshalb bleibt das Leben gleich und grau, und wenn ich nichts tue, werde ich entweder die brave Ehefrau und gute Mutter oder verrückt, was wahrscheinlicher ist, und beides will ich nicht; ich will finden, was wir suchen sollen; der Grund, warum ich und du hier sind, jeder sollte sich das fragen.

 

Milan: Viele Philosophen haben sich darüber den Kopf zerbrochen, die Antwort hat keiner gefunden, nicht die endgültige Antwort, es steht dir frei, zu wählen und dich einer Meinung anzuschließen.

 

Ich: Komm mir nicht mit Philosophie, wo du weißt, dass ich nichts davon halte und verstehe, ich   werde auch nicht deine Bücher aufschlagen, um schlauer zu erscheinen, abgelesene, kopierte Weisheiten; nein, ich glaube, man muss diese Erfahrung selbst machen.

 

Milan schenkt mir ein Lächeln, er sagt: Das ist heute deine Sternstunde, nehme ich an. Und ich fahre ermutigt und eifrig fort: Weißt du, ich denke nicht, dass es etwas mit Religion zu tun hat, das sind Fanatiker, das kann gefährlich werden. Die ganzen Aufstände in der Welt, und ich brauche nur daran zu denken, wie mir auf der Straße ein Buch angeboten wurde, mit einem wundervollen bunten Einband, von einem wirklich netten jungen Mann. Vielleicht war sein Haarschnitt ein wenig unkonventionell (Milan amüsiert sich über meine Umschreibung des Hare Krishna-Jüngers), aber ich habe selten einen so höflichen jungen Mann getroffen, er war richtig besorgt um mich. Beinahe hätte ich ihm sein Buch abgenommen, allein die Tatsache, dass ich es umsonst haben sollte, hat mich stutzig gemacht. Ich bin weitergegangen, und er kam mir nach, er wollte mir auf Gedeih und Verderb dieses Buch schenken, er versprach mir ein besseres Leben, wenn ich es aufmerksam durchlese. Ich weiß nicht, was er sonst noch gesagt hat, doch ich bekam es mit der Angst, es klang so fremd, ich wollte mich nicht zwingen lassen. Da wurde er ungehalten, wie kann man seine Rettung nur so mit Füßen treten, ich würde ja nichts verlieren, im Gegenteil. Doch genauso kam es mir vor, verstehst du, ich traute diesem Buch viel mehr zu, als nur ein Bündel beschriebenes Papier zu sein, ich hatte die Befürchtung, es könnte etwas anderes aus mir machen als ich bin, und ich bin nicht bereit dazu, ich glaube nicht einmal, dass das nötig ist, alles aufgeben, um neu anzufangen.

Ist es das nicht, fragt Milan, sein Ton veranlasst mich, meinen Standpunkt genauer zu erläutern:

Wir werden doch geboren mit all den Eigenschaften und Merkmalen, die uns später als einzigartig auszeichnen, sogar eineiige Zwillinge unterscheiden sich im Äußeren und im Wesen, wenn du genau hinschaust, niemand ist wie ein anderer, wir sind alle Individuen, das heißt also nicht, das wir uns ändern müssen, sondern mit dem, was wir sind und haben, versuchen zurechtzukommen, das ist doch das Aufregende, warum sollte man wider die Natur handeln?

Milan vernichtet mich, er sagt: Dann wird es nie Frieden geben, nicht auf der Welt und auch nicht in dir.

Wir reden nicht mehr, es hat keinen Sinn, zu diskutieren, er hat recht, in allem, was er sagt und tut, Milan begeht keinen Fehler, und ich erkenne, dass ich mich ändern muss.

        

 

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